Die Story Einzigartiges Schattengewächs in der Jazz-Flora
Das hr-Jazzensemble vereint eine musikalische Potenz, die bundes- und wahrscheinlich auch weltweit einmalig ist.
Der Langstreckenrekord hinsichtlich der Lebensdauer des Ensembles ist evident – weil physikalisch eindeutig messbar. Die Rekorde in artifizieller Hinsicht, immer wieder Kreativität und Originalität neu zu generieren, entziehen sich buchhalterischen Maßstäben. Da ist aber selbst bei Leuten, denen der ausgefallene Klang-Kosmos vom hr-Jazzensemble nicht unbedingt gleich zugänglich ist, so etwas wie Respekt spürbar.
Immergrünes Gewächs
"Osmunda", das ist der Titel einer Komposition von Ralf Hübner, viele Jahre Schlagzeuger und einer der kompositorischen Masterminds der Band. Eines jener für das hr-Jazzensemble typischen vielstimmigen Klang-Kleinodien, die zwischen opulenter Melancholie und grüblerischem Zorn changieren. Doch "Osmunda" ist mehr als das. Der Name bezeichnet ein immergrünes Farnkraut, das hervorragend wächst, auch im Schatten des tiefen dunklen Waldes – allerdings ist es in unseren Regionen fast schon ausgestorben.
Kompositionen fallen nicht weit vom Stamm. Von den Jazzensembles, die sich die ARD-Anstalten in der Phase des neuen Aufbruchs im Nachkriegs-Deutschland leisteten, hat nur das Jazzensemble des Hessischen Rundfunks überlebt. Heute steht es sozusagen unter "künstlerischem Naturschutz". Dafür ist vor allem die musikalische Potenz verantwortlich, die in diesem einmaligen Jazzensemble versammelt ist.
Geburt qua Akklamation
Als am 23. Mai 1958 Eberhard Beckmann, der damalige Intendant des Hessischen Rundfunks, auf dem 6. Deutschen Jazzfestival Frankfurt die "German All-Stars" unter Albert Mangelsdorff als künftiges "Jazzensemble des Hessischen Rundfunks" proklamierte, konnten weder die Musiker noch die Verantwortlichen des Rundfunks ahnen, welche auf Jahrzehnte hinaus folgenreiche Entwicklung sich aus dieser Geburt qua Akklamation ableiten würde.
Die Idee zu einem solchen kontinuierlich arbeitenden Studio-Ensemble stammt eigentlich von Horst Lippmann, einem freien Mitarbeiter bei “Radio Frankfurt“ (so hieß der Hessische Rundfunk bis Ende der 40er-Jahre) und einem tatkräftigen Lobbyisten, auf dessen Initiative die meisten Jazzaktivitäten im Frankfurt der frühen Jahre zurückgehen. Das hr-Jazzensemble besteht seither und hat in der Stille des Studios – von Umbesetzungen unbeeindruckt und vom Lauf der Zeit nie überholt – eine ganze Enzyklopädie "kom-provisierter Musik" geschaffen. Inzwischen liegt ein Schatz im hr-Archiv, der sukzessive um einige Glanzstücke anwächst.
Klangliche Individualität
Das Jazzensemble besteht aus Musikern, deren Name jeder kennt. Dennoch stand das Ensemble nur selten im Mittelpunkt. Als hochwertiges Ensemble von extraordinärem Stellenwert durchaus weithin bekannt und anerkannt, entzieht es sich dem Licht des Tages und der großen Rampe. Sein Arbeitsplatz ist das Studio: ein Schattengewächs, dessen einfallsreiche Klangwelten nur im fahlen Kunstlicht von Studio II des Hessischen Rundfunks gedeihen und den Jazzsendungen in hr2-kultur eine eigene Farbe geben.
"Atmospheric Conditions Permitting", eine Werkschau, die 25 Jahre hr-Jazzensemble (von 1967 bis 1993) repräsentiert und als Doppel-Album 1995 erschien (ECM 1549/50), erhielt damals den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik. Im Spätsommer 2005 ist “Perpetual Questions“ (hr-musik.de hrmj 025-05), das zweite Album vom hr-Jazzensemble, erschienen. Damit werden die fünf Jahre der Arbeit des hr-Jazzensembles seit der Jahrtausendwende in wichtigen Auszügen dokumentiert. Auch dieses Album konnte die besondere Aufmerksamkeit der Jury des Preises der Deutschen Schallplattenkritik auf sich ziehen und wurde Ende 2005 mit dem Vierteljahrespreis ausgezeichnet.
Der Lotse geht von Bord
Unglücklicherweise kam das Album ausgerechnet zu dem Zeitpunkt aus dem Presswerk, als Ende Juli 2005 die Nachricht aus dem Krankenhaus kam, dass Albert Mangelsdorff nach längerer Krankheit verstorben ist. Damit fehlte dem hr-Jazzensemble der Kopf. Aber es ist natürlich ganz im Sinne des Kopfes von Albert Mangelsdorff, dass das hr-Jazzensemble in seinem Geiste weiterarbeitet. Das ist seit nunmehr seit über einem Jahrzehnt der Fall. Die Masterminds, die auch schon vorher das kompositorische Rückgrat des Ensembles ausgemacht haben, sind noch immer tragende und treibende Kräfte – freilich sind neue Enthusiasten dazugekommen.
Nachhaltiger noch als sein Ruf hat sich das individuelle Klangbild dieser Formation eingeprägt. Schon seit Jahrzehnten liegt hier die Betonung der Arbeit auf Komposition und Arrangement. Sicher, Jazz ist Improvisationsmusik – gegen diese Grundfeste wird damit nicht opponiert. Vereinigt das Jazzensemble mit Musikern wie Albert Mangelsdorff, Heinz Sauer und Christof Lauer doch einige der kaum zu übertreffenden Geschichtenerzähler in Sachen Jazz-Improvisation. Doch die Einbettung dieser Virtuosiäten sind vom Arrangement eher kuriose Besonderheiten als standardisierte A-A-B-A-Formate, über die im Jazz gemeinhin gejammt wird.
Komplexe Studioblüten
Das Jazzensemble ist das Gegenteil eines "All-Star-Jams", hier entstehen komplexe "Studioblüten", die sich der Realisierung auf offener Bühne in den meisten Fällen geradezu widersetzen. Schon lange experimentiert das hr-Jazzensemble auch mit Elektronik, mit Maschinen-Sounds aus dem Computer, anfänglich mit Bandschleifen. Repetitions-Rituale, die den umstrittenen Segnungen des digitalen Zeitalters und seinen vielnamigen "ambient"-Moden entspringen, lassen Klangflächen entstehen. Immer öfter berührt die Klangwelt dieses kammermusikalischen Ensembles auch die Regionen der Neuen Musik.
Abenteuerliche Arrangements, die zuweilen auch nahe an der Demarkationslinie zur "Unspielbarkeit" angesiedelt sind, Zwöfton-Tiraden im kühn abgezirkelten Satzgesang, ein Kosmos aus Klangmalereien, die sich aus dem reichen Fundus der prallen Jazz-Geschichte ihrer Protagonisten speisen. Mal weht hier noch ein wenig aus den ersten, noch "coolen" von Tristano und Konitz geprägten Anfangszeiten des Ensembles herüber, dort schimmert ein wenig die Vergangenheit von Fusion und Jazz-Rock durch, um sogleich in kollektiver Improvisation zu zerfasern. Früher hat man das wohl Free Jazz genannt.
In der Andeutung liegt die Kraft
Doch es sind nie die kruden Vorgaben jener historischen Stile des Jazz, die hier eingelöst werden, sondern allenfalls deren atmosphärische Schwebungen zwischen den Stilen. Vieles in diesem Ensemble lebt von der Andeutung, dem nicht Gespielten, aber trotzdem Hörbaren. Ralf Hübner, Heinz Sauer und Günter Lenz waren oder sind die kompositorischen Masterminds dieser Formation mit Langzeit-Gütesiegel.
Ihre Arrangements – zuweilen kommen sie seit Jahren auch von anderen Mitgliedern oder von Gast-Solisten – haben dafür gesorgt, dass das Klangbild des Ensembles unter der Schirmherrschaft von Albert Mangelsdorff alles andere als ein klingendes Jazz-Museum darstellt. Hier tönt ein Versuchslabor - immer auf der Suche nach dem "Unerhörten". Und das durchaus im doppelten Sinne des Wortes.
Langstrecken-Rekordler
Dem Jazzensemble des Hessischen Rundfunks gebührt unzweifelhaft der Titel, die älteste in Kontinuität fortbestehende Formation im modernen Jazz in deutschen Landen zu sein. Und auch im sonstigen Erdenrund ist keine Formation bekannt, die einen solchen Langstreckenrekord bereits vorgelegt hat. Der Superlativ an hier versammelter Jazz-Weisheit spiegelt sich auch im Alter einiger Ensemble-Mitglieder wieder: Bis zu seinem Tod im Februar 2012 war der zuletzt 86-jährige Joki Freund noch immer dabei. Emil Mangelsdorf, der sich vor einigen Jahren zurückzog, und bis zuletzt auch sein Bruder Albert, jeder für sich repräsentiert(e) mehr als ein klingendes Dreivierteljahrhundert. Christof Lauer ist Generationen jünger, trotzdem aber schon lange festes Mitglied in dieser Versammlung der "Männer der ersten Stunde des deutschen Nachkriegs-Jazz". Nicht gering zu schätzen ist die Auseinandersetzung mit Gastmusikern, die immer wieder für neue Impulse sorgen.
Frei von Markt-Zwängen
Der Hessische Rundfunk ist Hort, Ermöglicher und Katalysator dieser ausgefallenen und einzigartigen Klangwelt innerhalb der ARD-Landschaft. Die Mitglieder des hr-Jazzensembles, die auch eigene Formationen leiten, haben in diesem Kontext keinerlei kommerzielle Verpflichtungen, sondern – das war von Anfang an der Grundgedanke – sollten frei von allen Zwängen des Marktes spielen und experimentieren. Ein Privileg, welches die Mitglieder des Jazzensembles nicht zu "Leibeigenen" des hr macht (es handelt sich nicht um festangestellte Musiker), andererseits aber mehr als gnädig geladene Gäste des Senders sein lässt.
In zwei Aufnahmesitzungen von jeweils rund vier Stunden (Einspielen, Probe, Aufnahme, Abmischung) entstehen in der Regel vier neue ausgefeilte und sendefertige Kompositionen mit einem anspruchsvollen Arrangement. Über zweitausend solcher Unikate hat das Jazzensemble im hr schon produziert und durch den Äther geschickt. Ein unersetzbarer Personalausweis für das, was in Frankfurt an unverwechselbar eigenem Jazz kreiert worden ist.
Fährtensucher bei der Arbeit
Die Gästeliste vom hr-Jazzensemble ist geradezu unglaublich – besonders wenn man zurückgeht in die 60er- und 70er-Jahre. In der jüngeren Vergangenheit (seit der Jahrtausendwende) gehörte der Bassist Stephan Schmolck immer wieder zu den "Gästen" des Ensembles. Er ist an so vielen Produktionen beteiligt gewesen, dass sich sein Gast-Status zeitweise in den eines "zweiten Bassisten des Ensembles" verwandelte. Desöfteren wurde Günter Lenz auch durch Vitold Rek vertreten.
Auch der Saxophonist Peter Back, der anfänglich als Ersatzmann für den vielbeschäftigten und nicht immer anwesenden Christof Lauer ins Spiel kam, ist längst zu einer festen Größe herangereift. Peter Back sorgt mittlerweile wie Sauer und Lenz für originelle Kompositionen und Arrangements beim hr-Jazzensemble. Er ist ein klingendes Beispiel, das veranschaulicht, wie die Mitgliedschaft im hr-Jazzensemble seine kompositorisch-dramaturgischen Potenzen hat reifen lassen.
Raum für neue Talente
Als Ende 1999 Bob Degen, der langjährige Pianist des Ensembles, in seine amerikanische Heimat zurückgekehrt ist (dass das nur eine temporäre Rückkehr werden sollte, konnte damals niemand ahnen), wollte man die Vakanz am Piano nutzen, um immer wieder neuen Talenten im Ensemble Raum zu geben. Dazu gehörte natürlich die häufige Verpflichtung des Vibraphonisten Christopher Dell, der schon in der Vergangenheit immer wieder mal Gastsolist beim hr-Jazzensemble war. Auch der Pianist Jens Thomas konnte für einige Produktionen gewonnen werden. In der Folge hat das hr-Jazzensemble mit vielen Pianisten gearbeitet: Hans Lüdemann, Christof Sänger, Michael Wollny, Uwe Oberg, Thilo Wagner.
Aus dieser Phase wechselnder Gäste hat sich eine Kontinuität herausgeschält: Seit vielen Jahren ist der Frankfurter Pianist Tom Schlüter ständiges Mitglied im hr-Jazzensemble. Und wenn der Posaunist Stefan Lottermann in sein Instrument bläst, dann hören ohnehin viele Albert Mangelsdorff. Diese "akustische Fata Morgana" ist allerdings von langer Hand vorbereitet: Schon als der pralle Terminkalender von Albert Mangelsdorff manchmal seine Teilnahme an den Produktionen des hr-Jazzensembles verhindert hatte, war es sein ausdrücklicher Wunsch, dass ihn Stefan Lottermann vertreten möge. Der "bekennende Offenbacher" kann ohne Zweifel als einer der getreuen Albert-Mangelsdorff-Schüler gelten.
Ausdauerende Elastizität
Seit Beginn der 10er-Jahre im neuen Jahrtausend ist mit dem aus Argentinien stammenden Trompeter Valentin Garvie neue Schubkraft ins Ensemble gekommen. Garvie ist hauptamtlich Mitglied im Ensemble Modern und spielt Neue Musik. Der Vollblutmusiker interessiert sich aber auch für andere musikalische Sujets und hat besonders in Jazz-Zirkeln auf sich aufmerksam gemacht. Garvie, der explizit die Atmosphäre des gemeinschaftlichen und suchenden Miteinanders von jungen und älteren Musikern als Stimulus für sein Engagement im hr-Jazzensemble empfindet, wird hier nicht nur als ausgefallener Virtuose geschätzt, sondern auch als Komponist.
Als sich Ralf Hübner nach Jahrzehnten vom hr-Jazzensemble zurückzog, wurde mit vielen verschiedenen Schlagzeugern gearbeitet. Dabei kristallisierte sich Uli Schiffelholz als fester Schlagzeuger heraus, ein junger Frankfurter, der im Umfeld des Pianisten Bob Degen positiv aufgefallen war. So arbeiten mittlerweile mindestens drei verschiedene Jazz-Generationen unter dem Dach des hr an der Auslotung bislang unerhörter Sounds zwischen Komposition und Improvisation: ein Spezifikum dieses Ensembles und vielleicht eine der Triebfedern für seine langlebige Elastizität.
Fluktuierende Versammlung
Der jüngste Zugang im hr-Jazzensemble ist der Tuba-Spieler Ole Heiland. Bei seiner ersten Produktionssitzung mit dem Ensemble vor drei Jahren war Heiland gerade mal 17 Jahre jung. Er stand im Studio neben Heinz Sauer, der inzwischen – mittlerweile über 80 – zum elder statesman in dieser fluktuierenden Versammlung geworden ist. Hier, bei einer Produktion des hr-Jazzensemble, wurde vor anderthalb Jahrzehnten der Grundstein gelegt für das vielbeachtete Duo Heinz Sauer & Michael Wollny. Das hr-Jazzensemble war schon immer eine Begegnungsstätte.
Und die allgemeine Weisheit "all is going around in circles" gilt auch fürs hr-Jazzensemble. Seit Ende 2016 ist John Schröder immer wieder mit an Bord. Als einer der drei einstigen "Frankfurter Wunder-Gitarristen" war Schröder schon Ende der 80er- / Anfang der 90er-Jahre desöfteren Gast in der Band. Im Moment ist er eine feste Größe. Heinz Sauer hat vor Jahren einmal zur Arbeit des hr-Jazzensemble gesagt: „Das ist meine Universität.“ Die Frankfurter "Eintracht" ist hier nie vom Abstieg bedroht.
Guenter Hottmann, hr2-kultur