Von der "Willkommenskultur" zur "Flüchtlingskrise" - woher kommt dieses Wechselbad der Gefühle und Diskurse in Deutschland? In Wiesbaden sprechen Wissenschaftler*innen und Schriftsteller*innen über die Herausforderungen der Integration.

"Wir schaffen das": Unter dieser Devise der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde im Sommer 2015 die Fluchtbewegung tausender Menschen nach Deutschland medial begleitet. An großen Bahnhöfen wurden Geflüchtete mit Blumen empfangen, um viele der im Mittelmeer Ertrunkenen wurde in Gedenkminuten öffentlich getrauert. Nur wenige Monate später war von einer "Flüchtlingskrise" die Rede und die so genannte "Willkommenskultur" kippte in eine Kultur der politischen Abschottung, Brandanschläge häuften sich. Aus welchen Ängsten und Motiven speisen sich diese ambivalenten Haltungen? Ist es das Ergebnis populistischer Hetze? Oder rekurriert es aus den Lehren der deutschen NS-Geschichte, einerseits politisch Verantwortung übernehmen zu wollen und sich andererseits womöglich dabei zu überfordern? Wie gespalten ist unser Land diesbezüglich wirklich? Soziologische Forschungen belegen, die meisten Deutschen sind der Meinung, dass wir Einwanderung auch aus ökonomischen Gründen brauchen. Der Konflikt entzündet sich stärker an der Frage, ob wir in der Lage sind, mit großen Zuwanderungszahlen umzugehen. Haben wir genügend Kapazitäten für Unterbringung, Sprachkurse, Integration in Schulen und auf dem Arbeitsmarkt? Sollten wir also nicht viel mehr über die Herausforderung der Integration sprechen, damit diese besser gelingt?

UWE BECKER ist Professor für Sozialethik und Präsident der Evangelischen Hochschule Darmstadt. In "Deutschland und seine Flüchtlinge. Das Wechselbad der Diskurse im langen Sommer der Flucht" analysiert er rund 200 Artikel aus "DIE ZEIT" und von "ZEIT ONLINE" und zeichnet damit den Verlauf des medialen und politischen Diskurses nach der Aufnahme tausender Geflüchteter im Sommer 2015 nach – von der Willkommenskultur bis zum Brandanschlag.

BETIEL BERHE ist als migrantisches Arbeiterkind groß geworden. Sie ist heute Akademikerin und arbeitet als Ökonomin und Aktivistin. Anhand ihrer eigenen und anderer Biographien rekonstruiert sie in ihrem Debüt "Nie mehr leise. Die neue migrantische Mittelschicht" den wirkmächtigen Zusammenhang zwischen strukturellem Rassismus und Klassismus. Braucht es einen neuen Blick auf die Klassengesellschaft?

THERESA PLEITNER studierte Literarisches Schreiben und Psychologie und arbeitete u. a. als Psychologin in einer Unterkunft für Geflüchtete. In ihrem Debütroman verarbeitet sie die Erfahrungen, die sie dort machte: "Über den Fluss" begleitet die Arbeit einer jungen Psychologin in einem Auffanglager für Geflüchtete.

ANNE BAIER (Moderation) ist Politikredakteurin beim Hessischen Rundfunk und dort als leitende Redakteurin für verschiedene Sendeformate verantwortlich, z. B. für die Sendung "Der Tag" in hr2-kultur und hr-iNFO. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesellschaft, Bildung, Intersektionalität und Migration.

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Wir senden einen gekürzten Mitschnitt der Veranstaltung aus der Gesprächsreihe "Vor der Zerreißprobe", veranstaltet vom Literaturhaus Wiesbaden und dem Kulturamt Wiesbaden, vom 11. September aus der Villa Clementine.

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Sendung: hr2-kultur, "Literaturland Hessen", 06.10.2024, 12:04 Uhr