Was bedeutet "Cancel Culture" für unser gesellschaftliches Klima? Von wem werden Themen und Meinungen verbannt und warum? Um diese Fragen geht es bei einer Diskussion im Wiesbadener Literaturhaus.

Seit einiger Zeit richten sich vermehrt moralische Vorwürfe gegen Autorinnen oder Autoren und ihre Literatur. Bücher aus einer Zeit, in der rassistische, kolonialistische und sexistische Stereotypen nicht reflektiert wurden, geraten zunehmend in die Kritik und die Forderung wird laut, sie umzuschreiben. Während das für einige ein unabdingbarer Schritt gegen Diskriminierung ist, bedeutet es für andere eine Zensur, die der Kunst ihre Freiheit nimmt. Klar ist, "Cancel Culture" wurde zu einem gesellschaftlichen Klima, das alle möglichen Kulturbereiche erfasst. Von wem werden Themen und Meinungen verbannt und warum?

Und kann "Cancel Culture" ein legitimer demokratischer Protest sein oder ist sie eine Gefahr für den öffentlichen Diskurs? Neben diesem Spannungsfeld soll an diesem letzten Abend die alles verbindende Frage der Veranstaltungsreihe ausgelotet werden: Wie nutzen Populisten bestimmte Themen ("Triggerpunkte"), um zu emotionalisieren und die Gesellschaft zu spalten? Was kann man dem entgegensetzen? Ist die innere Zerrissenheit der Gesellschaft ein Symptom eines Umbruchs? Oder ist sie bereits ein Anzeichen einer drohenden Spaltung? Wie können wir Pluralismus, Menschenwürde, Freiheit und demokratische Werte wirksam verteidigen?

MICHAEL ANDRICK ist Philosoph und Autor und geht in seinem Sachbuch "Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen" den Ursprüngen und der Überwindung von Spaltung auf den Grund. Er fragt, wie Meinungsverschiedenheiten so heftig entzweien können und was dagegen getan werden kann. Für ihn beginnt gesellschaftliche Spaltung nicht mit politischen Antagonismen, sondern an dem Punkt, wo Konflikte moralisiert werden.

MELANIE MÖLLER ist Professorin für Latinistik an der Freien Universität Berlin. Zuletzt erschien von ihr "Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur". Ihre These: Jeder Zensur geht eine Selbstentmündigung der Zensoren voraus. Sie misstrauen ihrer eigenen kritischen Kompetenz und entscheiden sich für Vereinfachung. Möller plädiert dafür, der Leserschaft mehr zuzumuten: Literatur soll weh tun dürfen.

LINUS WESTHEUSER ist politischer Soziologe und Forscher an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zusammen mit zwei weiteren Co-Autoren betrachtet er in "Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft" Ungleichheiten, an denen sich Konflikte unserer Zeit entzünden und zeigt, dass unsere Gesellschaft nicht in dem Maße von Spaltung betroffen ist, wie allgemein angenommen wird.

KATHRIN FISCHER (Moderation) studierte Philosophie, Literaturwissenschaften und Russisch. Die gelernte Journalistin arbeitet als Autorin, Moderatorin und Podcasterin ("Erschöpfung statt Gelassenheit – Warum Achtsamkeit die falsche Antwort auf ziemlich jede Frage ist").

Wir senden einen gekürzten Mitschnitt der Veranstaltung aus der Gesprächsreihe "Vor der Zerreißprobe", veranstaltet vom Literaturhaus Wiesbaden und dem Kulturamt Wiesbaden, vom 25. September aus der Villa Clementine.

Sendung: hr2-kultur, "Literaturland Hessen", 17.11.2024, 12:04 Uhr