Mücke-Nieder-Ohmen Hilda Stern: "Genagelt ist meine Zunge"

Erst nach dem Tod von Hilda Stern fand ihr Mann in alten Schulheften ihre Gedichte in deutscher Sprache. Hilda Stern hatte das Ghetto Lodz und Auschwitz literarisch verarbeitet.

Mädchen lächelt in Kamera
Hilda Stern Bild © Werner V. Cohen, Baltimore
Zwei Mädchen
Hilda Stern mit ihrer Schwester Karola Bild © Werner V. Cohen, Baltimore

Nieder-Ohmen ist heute mit 2.400 Einwohnern der größte Ortsteil der Gemeinde Mücke im Vogelsbergkreis. 1924, als Hilda Stern hier als Tochter eines jüdischen Viehzüchters geboren wurde, war es noch ein selbstständiges Dorf. Hilda besuchte die Dorfgrundschule und spielte mit ihren Freundinnen – den nichtjüdischen Nachbarinnen. Die Schwester beschreibt sie als Bücherwurm. Im Alter von acht Jahren verfasste sie bereits ein Theaterstück und schrieb erste Gedichte – da hatten bereits die Nationalsozialisten die Macht übernommen.

Mit elf Jahren wurde Hilda Stern der Schule verwiesen. Sie verließ ihr Elternhaus und ging für ein Jahr in die Samson-Raphael-Hirsch-Schule in Frankfurt. Dann wechselte sie in die Israelitische Lehrer-Bildungs-Anstalt nach Würzburg, wo sie bis zu deren Schließung nach der Reichspogromnacht im November 1938 blieb.

Audiobeitrag
Ende des Audiobeitrags

Da ihr Heimatdorf jetzt "judenfrei" sein sollte, musste die Familie nach Frankfurt umziehen, von wo sie im Oktober 1941 verschleppt wurde. Bis 1944 erlebte Hilda Stern die Gräuel des Ghetto Lódz, im August 1944 wurde sie mit einem der letzten Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und schließlich auf einen Todesmarsch ins Lager Malchow bei Berlin geschickt.

Hilda Stern überlebte. Und, wie durch ein Wunder, überlebte auch ihre Schwester Karola. Mit ihr flüchtete Hilda Stern nach Österreich, wo sie in einem Camp für "Displaced Persons" auf ihre Auswanderung nach Amerika wartete – und dichtete. Schon im Ghetto und sogar im Vernichtungslager hatte sie Gedichte verfasst. Der größte Teil ihrer Lyrik und Prosa aber entstand während des Wartens im Camp und während der ersten drei Jahre in der neuen amerikanischen Heimat.

Handschrift Hilda Stern
Manuskript "Mein Hungerlied" von Hilda Stern Bild © Werner V. Cohen, Baltimore

Mein Hungerlied

Ich wieg einen Wolf im sorgsamen Arm
an meiner nackten Brust.
Die Brust wird kalt, sein Pelz wird warm
Er wiegt sich in wohliger Lust.

Mein Hungerlied, dein Schlummerlied
sing ich Dir. Mein Wölfchen schlafe –
der Löwenzahn und die Distel blüht,
und es blöken viel hungrige Schafe.

Mein Wölfchen schlaf, mein Wölfchen schlaf,
die hungrigen Schafe sterben,
und hältst du die Zähne dir scharf und brav
wirst ihre Kadaver du erben.

Mein Hungerlied, dein Schlummerlied,
mein Wölfchen – es geht zu Ende,
Warm schlägt dein Puls, dein Pelzchen glüht
und starr sind mir Busen und Hände.
(Hilda Stern)

"Genagelt ist meine Zunge"

Nach 1949 wollte Hilda Stern der deutschen Sprache schreibend nicht mehr vertrauen. Sie heiratete den ebenfalls deutschstämmigen Werner Cohen und wurde Mutter dreier Töchter. Sie starb 1997 in Baltimore, Maryland.

Weitere Informationen

Hilda Stern Cohen: Genagelt ist meine Zunge

Gedichte und Prosa einer Holocaust-Überlebenden
Hg. von Erwin Leibfried, Sascha Feuchert und William Gilcher in Zusammenarbeit mit Werner V. Cohen
Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung, Gießen 2003

Ende der weiteren Informationen

Erst nach ihrem Tod entdeckte Werner Cohen in einer Schublade eine Reihe von alten Schulheften mit 150 Gedichten und Prosatexten in deutscher Sprache. Gemeinsam mit dem Goethe-Institut Washington, der Gießener Arbeitsstelle Holocaustliteratur und der Ernst-Ludwig Cahmbré-Stiftung zu Lich veröffentlichte er die Texte in dem Band "Genagelt ist meine Zunge". Sie sind ein außergewöhnliches poetisches Zeugnis des Holocaust.

Das Geburtshaus von Hilda Stern in der Rathausgasse 3 in Nieder-Ohmen gibt es bis heute, auch das alte Schulhaus existiert noch. Im Heimatmuseum im alten Rathaus wird die frühere Lebens- und Arbeitswelt des Dorfes dokumentiert, in dem sich ab dem 16. Jahrhundert auch eine kleine jüdische Gemeinde mit eigener Synagoge etabliert hatte. An der Rathausmauer neben dem Museum erinnert eine Gedenktafel an die jüdische Dichterin Hilda Stern.

Weitere Informationen

Weitere Informationen

www.holocaustliteratur.de
www.hildastory.org

Ende der weiteren Informationen

Quelle: hr2-kultur