Zwei Argentinier suchen auf dem Weg nach und durch Osteuropa nach kulturellen Spuren ihrer eigenen Identität, was viel mit Musik zu tun hat und mit vielem mehr, was die beiden erst im Lauf der Dreharbeiten und Recherchen erfahren beziehungsweise verstehen. Ein ungewöhnlicher, zunächst verwirrender, dann anrührender Film! Und wer viel Klezmer-Musik erwartetet hatte, wird vielleicht enttäuscht, aber entschädigt...
Daniella Baumeister war über den Berlinale-Preisträger-Film postiv überrascht||
Einen persiflierenden Operetten-Einakter komponierte Franz Lehar als Reaktion auf den Riesenerfolg seiner eigenen "Lustigen Witwe". Furios das Spiel am Stadttheater, witzig, überzeichnet, albern bis in kleine Gesten hinein auf den Punkt - gekonnt inszeniert von Johanna Arrouas. Das Ganze hautnah auf der Bühne im Kleinen Haus, die T-Förmig ins Publikum hineingezogen wurde, leicht und spielerisch - insgesamt ein vergnüglicher Abend, der längst nicht so harmlos ist, wie es auf den ersten Blick scheint...
Imke Turner fragte sich vorher, ob man so ein Stück heute noch spielen kann. Ihre Antwort: Ja, so!||
Das Hessische Staatsballett führt ein Stück mit dem schlichten Titel "Kafka" urauf. Die beiden Italiener Mattia Russo und Antonio de Rosa wollen ihn ins Heute übertragen - indes hat das Stück wirklich sehr wenig mit Kafka zu tun. An einer nächtlichen Tankstelle werden, so interpretiert unsere Kritikerin das, die Reste unserer Zivilisation aufgeführt, im Nebel treffen sehr heutig wirkende Menschen auf Traum- und Alptraumgestalten. Die beiden Choreografen machen das eindrucksvoll, dieses Tanztheater changiert zwischen Irritation und Kitsch, ist einerseits dekorativ, aber auf Ebene von Licht und Ton immer auch strapaziös. Also: ganz spannend!
Esther Boldts Blick war viel freier, als sie aufgehört hat in diesem Stück des Hessischen Staatstheaters Kafka zu suchen||
Das Requiem von Giuseppe Verdi war im Museumskonzert in der Alten Oper Frankfurt zu erleben. Eine gewaltige Totenmesse, der die kurze Komposition "Ein Überlebender aus Warschau" von Arnold Schönberg vorausging - Teil des zweitägigen Festivals "Mitten am Rand", das noch bis Dienstag (28.5.) läuft. Ein beeindruckendes Konzert, das begeisterte Publikum nimmt als letzte Botschaft Verdis die Bitte mit: Libera me, Befreie mich! Und diese Bitte um Befreiung, um Freiheit, ist gerade auf der Welt so aktuell, dass man sie auch völllig losgelöst von jedem religiösen Kontext äußern kann.
Meinolf Bunsmann über ein denkwürdiges Konzert in der Alten Oper Frankfurt||
Mascha Kaléko war Dichterin der Neuen Sachlichkeit, die als jüdische Autorin von den Nazis verboten wurde, in die USA fliehen musste - und nach dem Krieg hierzulande wieder ein Publikum gefunden hat. Ihre Gedichte schweben zwischen Zärtlichkeit, Ironie und Melancholie, die Sängerin Dota Kehr hat sie vertont – und unter anderen im Staatstheater Darmstadt gesungen. Sie geht ganz unbefangen-charmant an die Lieder und Texte heran, holt die Menschen ganz nah an sich heran, manchmal blitzt die ehemalige Straßenmusikerin in ihr auf, was noch für mehr Bindung zum Publikum sorgt, sie animiert zum Mitsingen – Dota Kehr und ihre Band hatten sichtlich Spaß, das Publikum hat gejauchzt.
Bastian Korff liebt den unkomplizierten Umgang mit den Texten der Kaléko||
Es ist kein Vergnügen, ihrer Zeit voraus zu sein, wie die österreichische Künstlerin Maria Lassnig. Die Regisseurin Anja Salomonowitz hat ihr den Film "Mit einem Tiger schlafen" gewidmet. Maria Lassnig wurde früh gefördert, stieß dann aber auf dem Kunstmarkt auf Unverständnis, weil sie sich den herrschenden Moden nicht fügen wollte. Birgit Minichmayr spielt Maria Lassnig in sämtlichen Lebensphasen. Der Film ist vor allem eine Studie darüber, woher Maria Lassnig ihre Bilderwelten geschöpft hat.
Mario Scalla lobt die schauspielerische Leistung Birgit Minchmayrs in "Mit einem Tiger schlafen".||
Das Kunstmuseum Marburg präsentiert eine Weltkarte der Künstlerin Julia Krause-Harder als Flickenteppich. Schließlich gibt es keine geographisch korrekte Abbildung der Erdkugel in zwei Dimensionen, da kann man sich genauso gut eine eigene Weltkarte basteln. Julia Krause-Harder hat drei Jahre ihres Lebens an der Nähmaschine verbracht, um die Länder dieser Welt in Stoff zu übertragen. Über Großbritannien hat sie zum Beispiel fünf Gitarrensaiten gespannt, und verweist damit auf die Pop-Geschichte dieses Landes. So wird jedes Land durch eine Besonderheit repräsentiert, was die Betrachtung zu einem großen Vergnügen macht.
Stefanie Blumenbecker wäre bei der Betrachtung der Weltkarte von Julia Krause-Harder im Kunstmuseum Marburg beinahe über Indonesien gestolpert.||
Wenn es keinen Gott gibt, ist dann alles erlaubt? Das ist die Frage, die Dostojewski in "Die Brüder Karamasow" umtreibt. Am Schauspiel Frankfurt sind die Brüder allesamt Schauspielerinnen, aber das ist eher unwichtig, denn in dem Stück geht es nicht um die Geschlechterfrage. Die Schauspielerinnen spielen hervorragend, das Bühnenbild ist grandios, und doch bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück. Nicht umsonst ist der Roman so lang wie er ist, und dieses Textgebirge auf theatergängige drei Stunden zu kürzen, nimmt ihm viel von seiner Wirkung.
Ursula May nahm die Inszenierung von "Die Brüder Karamasow" am Schauspiel Frankfurt vor allem als Anregung, sich den Roman noch einmal vorzunehmen.||
Das Kunsthaus Wiesbaden präsentiert das Spätwerk Otto Ritschls. Otto Ritschl? Der Maler - Jahrgang 1885 - war immer eher unter Kollegen berühmt, als im breiten Publikum. Ab 1908 lebte er in Wiesbaden. Während der Weimarer Republik machte er alle Kunstströmungen mit, ging dann - als "entartet" gebrandmarkt - während des Nationalsozialismus in die innnere Emigration. Nach der Befreiung explodierte seine Kreativität. Ritschl malte nur noch abstrakt und nur noch für sich selbst. Seine Bilder waren ausdrücklich nicht zum Verkauf bestimmt. In über 900 Werken erforschte er die Wirkung von aufeinander stoßenden Farbräumen, am ehesten noch mit den Farbfeldern von Mark Rothko vergleichbar. In Wiesbaden lässt sich anhand von 40 Gemälden zumindest eine Ahnung von dem Farbenrausch erhaschen.
Mario Scalla ließ sich von der Farbforschung Otto Ritschls im Kunsthaus Wiesbaden beeindrucken.||
Haben Sie sich auch schon gefragt, warum es so wenige Dirigentinnen von Weltruf gibt? Dann ist der Film "Momentum" vielleicht was für Sie: Joana Mallwitz ist eine der wenigen. Eine Frau voller Leidenschaft, Musik und Leben. Und der Film "Momentum" gibt auch einige Antworten auf die Eingangsfrage, die so einfach nicht zu finden sind.
Daniella Baumeister liebt den Slogan "Gänsehaut kennt keine Grenzen" und fand ihn im Film "Momentum" von Günter Atteln wieder||
Anlässlich der diesjährigen Europameisterschaft gehen eine Vielzahl von Künstlerinnen und Künstlern auf Spurensuche, auch die Gruppe La Fleur. In ihrem Stück "Konami - Ein Fußballtanz", das am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm gezeigt wurde, sucht die Truppe um Monika Gintersdorfer, die an der Elfenbeinküste verortet ist, Verbindungslinien zwischen Fußball und Popkultur.
Esther Boldt fand es gut, dass im Frankfurter Mousonturm ganz beiläufig die Vielstimmigkeit von Sprachen und Kulturen zum Ausdruck kam.||
Das Ensemble Modern spielte Musik des Eisler-Zeitgenossen Erwin Schulhoff - an einem ganz besonderen Ort, im Museum Judengasse in Frankfurt. Die Initiatoren: Zwei Freundeskreise, der des Ensembles Modern und der des Jüdischen Museums. Und es traf die junge auf die schon älteren Generationen: Schülerinnen und Schüler der Frankfurter Wöhlerschule haben das Konzert moderiert. Ohren auf für neun Musikerinnen und Musiker des Ensembles Modern, für kluge Moderationen und für den Sänger Harald Hyronymus Hein, der so gesungen hat, dass es einem unter die Haut ging.
Meinolf Bunsmann erlebte das Ensemble Modern und gut vorbereitete Wöhlerschüler in einem wichtigen Konzert||
Seit Freitag geht es wieder ein wenig märchenhafter zu in Hanau: Die Brüder-Grimm-Festspiele haben Premiere gefeiert - mit dem Musical-Märchen "Die Gänsemagd", für das ein eher unbekanntes Märchen Pate gestanden hat. Eine Prinzessin soll verheiratet werden – und wird mit einer Magd und dem sprechenden Pferd Falada auf den Weg geschickt zum Prinzen. Ein unaufgeregter Abend, der ein bisschen schneller oder kürzer erzählt werden könnte – für Familien lohnt sich das auf jeden Fall!
Bastian Korff wollte sich bei den Brüder-Grimm-Festspielen köstlich amüsieren, indes...||
Heute reisen wir wie selbstverständlich um die halbe Welt, machen dabei Fotos zu Hunderten und verschicken die an alle, die es interessiert oder auch nicht. Vor gerade mal 60, 70 Jahren war das völlig anders: Weite Reisen war mitunter strapaziös, manche Länder waren tabu und Fotografieren war mühsam und kostspielig. Aber es gab Pioniere des Reisens und der Reportage - und das Kulturforum der TU Darmstadt und das Weltkulturen-Museum Frankfurt stellen uns zur Zeit Im Rahmen des RAY-Fotografie-Festivals das Werk der Milli Bau vor.
Alf Haubitz war im Kunstforum der TU Darmstadt vom Mut und der modernen Fotografie beeindruckt, vermisste aber die ganz große Präsentation||
Heidi Specogna hat ihren Dokumentarfilm "Die Vision der Claudia Andujar" einer bemerkenswerten Fotografin gewidmet. Diese Schweizerin hat ihre Lebensaufgabe im brasilianischen Urwald bei den Yanomami gefunden. Noch heute ist sie dankbar dafür, dass die Yanomami - die von weißen Menschen eigentlich nur verfolgt worden sind - ihr Vertrauen geschenkt haben. Claudia Andujar revanchierte sich dafür durch einzigartige Fotos, die die Yanomami in die großen Illustrierten dieser Welt brachten - ein Ärgernis für die damalige brasilianische Militärdiktatur.
Daniella Baumeister über den großartigen Film "Die Vision der Claudia Andujar", der in seinen besten Teilen nur aus Fotos besteht.||
Hohe Kunst und Kinderspielzeug, das passt nicht zusammen! Oder doch? Die Kasseler Gemäldegalerie im Schloss Wilhelmshöhe hat den Dioramenkünstler Oliver Schaffer eingeladen, ihre Sammlung mit Szenen aus Playmobil-Figuren zu kommentieren. Dreißig kleine und große Tableaus sind entstanden. Sie übersetzen die Bilder der Alten Meister nicht nur für Kinderaugen.
Stefanie Blumenbecker hat auf der Kasseler Wilhelmshöhe schon viel gesehen, aber das noch nicht||
Wem die 600 Seiten von Michel Houellebecqs letztem Roman "Vernichten" zu viel waren, dem bietet das Staatstheater Wiesbaden eine kompromierte Fassung auf der Bühne. Houellebecq knüpft sich in "Vernichten" das dysfunktionale französische Gesundheitssystem vor. Die Hauptfigur Paul Raison erhält eine Krebsdiagnose, sein alter Vater steckt in einer medizinischen Verwahranstalt fest. Die Politik spielt herein, weil Raison auch Berater des Wirtschaftsministers ist. Bei der Premiere spielte dann sogar das Wetter mit, weil es auf die Bühne regnete. Was man anfangs für einen gelungenen Regie-Einfall halten konnte, stellte sich als undichtes Dach bei einem Gewitter heraus.
Mario Scalla über eine gelungene Inszenierung von Michel Houellebecqs "Vernichten" am Staatstheater Wiesbaden, bei der selbst das Wetter mitspielte.||
"Tutto nel mondo è burla" – das ganze Leben ist ein Spaß! Die Schlussfuge aus Giuseppe Verdis Oper letzter Oper symbolisiert in Kürze das Motto dieser Aufführung: Was kümmert uns das Durcheinander um den vergangenen Intendanten, jetzt wird befreit losgelegt! Von den Strapazen hat man nichts gemerkt, der rote Teppich vorm Theater war ausgerollt. Alles in allem sollte man diese geniale, ganz ungewöhnliche Partitur des 80-jährigen Verdi unbedingt erleben. Es lohnt sich!
Meinolf Bunsmann hat im Parkett des Staatstheaters einen fulminanten Auftakt der Maifestspiele erlebt||
"Annette" von Anne Weber am Staatstheater Darmstadt erzählt die Geschichte von Anne Beaumanoir. Die ist in Frankreich Schulstoff; in Deutschland ist sie erst bekannt geworden, seitdem Anne Weber für ihren Roman "Annette, ein Heldinnenepos" den Deutschen Buchpreis erhalten hat. Anne Beaumanoir hat während des Zweiten Weltkriegs für die Résistance gearbeitet. Nach dem Krieg setzte sie sich für die algerische Unabhängigkeit ein, weswegen sie der französische Staat zu zehn Jahren Gefängnis verurteilte. Sie flieht ins Exil um den Preis, ihre drei Kinder nicht aufwachsen sehen zu dürfen. Weber hat ihren Roman in Versen verfasst, was ihn für eine Theateraufführung prädestiniert.
Esther Boldt sah mit "Annette, ein Heldinnenepos" am Staatstheater Darmstadt ein Leben, das man nicht glauben würde, wenn es erfunden wäre.||
Wenn Sie auch schon mal an einem "heißen Tisch" im japanischen Restaurant gesessen haben oder an der Sushi-Theke, wo Sie den Köchen auf die Finger schauen konnten - und ihre Fertigkeit und Hingabe bewundern, haben Sie vermutlich auch schon sehr gestaunt. Das ist aber japanischer Alltag, den man im Kino auf die Spitze treiben kann. Wenn nämlich das ganze zu einer ganz eigenen Kunst erhoben wird wie im Film "Das Streben nach Perfektion".
Daniella Baumeister ist nach dem Film erst recht Freundin der Kunst des Essenszubereitung||
Dieser sehr konsistente, inspirierende und kraftvolle Doppelabend lässt uns zwei unterschiedliche künstlerische Handschriften kennenlernen. Der einerseits vieles aufgreift, das uns gerade umtreibt - was hält uns als Menschen zusammen, und in welche Beziehung setzen wir uns zu dieser gebauten und gewachsenen Welt? - und eröffnet andererseits immer Assoziationsräume, die weit über konkrete Fragestellungen hinausgehen.
Esther Boldt war fasziniert von zwei neuen Choreografien für die Dresden Frankfurt Dance Company im Bockenheimer Depot||
Mit Spannung erwartet worden ist die Neuinszenierung des südafrikanischen Regisseurs Matthew Wild von Wagners "Sängerkrieg auf Wartburg": Ihm gelingt das Kunststück, eine ganz andere Geschichte zu erzählen, ganz viel dazuzuerfinden - und trotzdem plausibel zu bleiben, so dass man auch dem ursprünglichen Stoff noch folgen kann. Er holt den Tannhäuser aus der Heternormativität heraus, versetzt Heinricht von Ofterdingen, den mittelalterlichen Autor des Tannhäuser-Stoffs, ins 20. Jahrhundert.
Der Konflikt: Darf ich in Sünde leben oder muss ich mich den herrschenden Normen der Gellschaft anpassen? Das ist hier die Frage: Darf ich ein Leben außerhalb der heterosexuellen "Normalität" führen?
Auf das Dirigat von Thomas Guggeis, den neuen Generalmusikdirektor, ist man nach Opern von Mozart, Verdi und Ligeti sehr gespannt gewesen. Er bringt diesen Wagner großartig, fein und differenziert, geradezu kammermusikalisch teilweise, dann groß und grandios, ein wunderbares Orchester, sehr präzise auch Chor und Extrachor in sehr sängerfreundlichen Bühnenbildern.
Christina Nielsson gibt eine darstellerisch wie stimmlich berührende Elisabeth, Dshamilja Kaiser eine warmstimmige, verführende Todesvenus, Marco Jentsch einen zunächst etwas verklemmten , im dritten Akt darstellerisch sehr verzweiflelten Tannhäuser, also Heinrich. Stimmlich fiel er im Volumen und in der Wärme etwas zurück hinter Domen Križaj als unglaublich sensibler Wolfram von Eschenbach und Andreas Bauer Kanabas als Landgraf Hermann mit großem profunden Klang und der besten Diktion.
Kurz und sehr gut: Insgesamt eine Vorstellung, die musikalisch wie inszenatorisch wirklich berührt und beglückt hat.
Meinolf Bunsmann war in der Oper Frankfurt erst konzentriert, immer wieder begeistert und am Ende restlos überzeugt||
Traditionell lädt die Frankfurter Nationalbibliothek zur Auftaktveranstaltung von "Frankfurt liest ein Buch" ein, erstmals fiel die Wahl auf eine Neuerscheinung, Florian Wackers Roman "Zebras im Schnee" (Berlin Verlag). Ein Buch über zwei junge, neugierige Frauen, die allerlei Personen treffen, die in der Kunstszene und für das Neue Frankfurt wichtig waren. Der Clou an diesem Abend war, dass heutige passende Prominente Passagen aus dem Buch lasen: Manfred Niekisch, ehemaliger Frankfurter Zoodirektor, über die Nashörner im damaligen Tiergarten; der Architekt Christoph Mäckler mit sichtlichem Vergnügen über das umstrittene Flachdach; Kunstvereins-Chefin Franziska Nori über die Künstlerin und Frauenrechtlerin Ottilie Röderstein. Der natürlich anwesende Autor des Buchs machte der Stadt im Damals und im Heute das Kompliment, dass sie sehr viel erzählfähiger sei als andere, hier seien Kontraste stärker als woanders: Uralt und ganz neu, provinziell und großstädtisch - und modern. Diese Frische, diesen Elan der Zeit, hat Florian Wacker im Roman eingefangen, insofern kein Wunder, dass er dieses Jahr ausgewählt wurde.
Mario Scalla empfiehlt das Buch und das Lesefestival, auch um Einblicke in die Stadtentwicklung zu bekommen||
Rainer Werner Fassbinder hat 1979 mit "Die Ehe der Maria Braun" einen Film geschaffen, der sich zum Klassiker auf deutschen Theaterbühnen entwickelt hat - so auch jetzt am Schauspiel Frankfurt. Maria heiratet 1943 in einer Kriegstrauung Hermann Braun. Die beiden verbringen eine Nacht miteinander, bevor Hermann wieder an die Front muss. Maria beißt sich alleine durch, weiß sehr genau, was sie will, verfolgt aber gleichzeitig den romantischen Traum einer Ehe mit Hermann, von dem sie nicht mal weiß, ob er überlebt hat. Manja Kuhl besitzt als "Maria" auf der Bühne eine große Präsenz; weniger glücklich ist die Entscheidung der Regie, die anderen Figuren buchstäblich in den Hintergrund zu drängen.
Esther Boldt fand die Figur der "Maria" in "Die Ehe der Maria Braun" am Schauspiel Frankfurt überzeugend, einige Regie-Entscheidungen dagegen weniger.||
Manhattans Upper West Side. Greg ist ein einsamer Familienvater mittleren Alters, der mit seinem Job unzufrieden ist und sich zunehmend von seiner karriereorientierten Frau entfernt. Eines Tages bringt er einen Hund mit nach Hause, den er im Park gefunden hat – oder der ihn gefunden hat – und der nur den Namen „Sylvia“ auf seinem Namensschild trägt. Sie verspricht, Gregs Leben mit all den Dingen zu füllen, die er vermisst: Spaß, Energie und vor allem angebetet zu werden. Doch als Greg zunehmend von der Beziehung zu Sylvia besessen ist, muss er sich mit den unerwarteten Konsequenzen auseinandersetzen, die ihre Anwesenheit auf seine langjährige Ehe hat. Sylvia ist eine intelligente, alberne, raffinierte und gelegentlich bissige Komödie über Beziehungen, die Natur und das Älterwerden. Mit einer grandiosen Darstellerin Louisa Beadel in einer Rolle zwischen Hund und Mensch.
Ulrich Sonnenschein konnte sich mit der Hunde-Darstellerin und dem Ausweich-Spielort des English Theatres im Zoo-Gesellschaftshaus sehr anfreunden||
In der japanischen Kultur ist die Grenze zwischen menschlicher Welt und Natur nicht so scharf gezogen wie bei uns im Westen. Und deswegen kann ein Film wie "Evil does not exist" von Ryusuke Hamagushi eigentlich nur aus Japan kommen. Hier gibt es keine Knalleffekte, keine Schreie oder wilde Schnitte. Hamagushi führt in eine wunderschöne Landschaft, die Investoren in einen Luxus-Campingplatz verwandeln wollen. Doch die Anwohner beginnen sich zu wehren, und dem scheint sich die Natur selbst anzuschließen. Ein verstörender Film, der beweist, dass Horror nicht laut sein muss.
Ulrich Sonnenschein fragte sich am Ende von "Evil does not exist" von Ryusuke Hamagushi, was er nun eigentlich gesehen hatte.||
Früher war alles besser. Oder? Autor und Regisseur Bonn Park ist dem Phänomen auf die Spur, dass Menschen das Gute gern in der Vergangenheit verorten, während das Schlechte die Gegenwart zu prägen scheint und auch die Zukunft misstrauisch beäugt wird. "They Them Okocha" heißt sein Stück. Der Eintracht-Fußballer, "Jay-Jay", hatte auf legendäre Weise 1993 Oliver Kahn und mehrere Verteidiger des FC Bayern mit tänzerischer Leichtigkeit ausgedribbelt. Lange her - und eine Steilvorlage: Vier Menschen auf Zeitreise in die eigene Kindheit und Jugend, sie wollen dem unwiderruflich vergangenen Kindheitsglück auf Spur kommen. Herauskommt große Komik und ein Wiedererkennungswert mit Gänsehaut - beeindruckend, dass die politische Dimension scheinbar harmlos und unterhaltsam daherkommenden Stückes gar nicht explizit benannt werden muss, sondern implizit immer schon vorhanden ist. Spannend und gut!
Esther Boldt war im Frankfurter Kammerspiel von Idee, Stück und Spielern angetan||
"There is no there there" (Es gibt kein dort dort). Gertrude Steins Zitat ist der Titel der neuen Ausstellung des MMK in Frankfurt. Das Haus widmet sich einem Phänomen, das bisher von der Kunstwissenschaft weitgehend übersehen wurde: Welche Spuren haben die zahlreichen Künstlerinnen und Künstler, die als Einwanderer nach Deutschland kamen, in der Kunstwelt hinterlassen? Zu sehen sind Arbeiten von Künstlern, die bis in die 1980-Jahre hinein nach Deutschland kamen. Manche als Gastarbeiter, aus Italien, Spanien oder der Türkei. Andere als Flüchtlinge, z.B. Menschen aus dem Iran oder aus Chile. Manche als ausländische Werktätige, die von ihren Heimatländern in die DDR "ausgeliehen" wurden. Großartige Kunst, darunter Portraits und Familienbilder, die das Leben der "Gastarbeiter" in Deutschland. Aber es wäre schön gewesen, nicht nur die Kunst selbst ernst zu nehmen, sondern auch die Frage, wie man sie in einer Ausstellung präsentiert. Und vielleicht wäre auch einmal weniger etwas mehr...
Stefanie Blumenbecker ist im MMK Frankfurt von den (zu) vielen Exponaten fasziniert, vermisst aber sehr die ausführliche Einordnung oder gar einen richtigen Katalog||
Am Staatstheater Wiesbaden hatte Puccinis letzte Oper "Turandot" am Samstag Premiere. Puccini hat sein Werk nicht abgeschlossen, wahrscheinlich weil er kein schlüssiges Ende gefunden hat, wie man vermuten darf. Ein "Happy End" bei dem eine Sklavin Selbstmord begeht, kann wohl nicht als solches durchgehen. Nach Puccini haben Kollegen drei verschiedene Enden komponiert, aber am Staatstheater Wiesbaden greift Daniela Kerck auf keine dieser Lösungen zurück. Sie hat ein neues Ende für "Turandot" entworfen - mit Musik von Puccini; mehr soll hier nicht verraten werden. Orchester und Sänger waren glänzend aufgelegt, und das Publikum revanchierte sich mit lang anhaltendem Applaus.
Meinolf Bunsmann fand die Lösung des Staatstheaters Wiesbaden, wie Puccinis "Turandot" abzuschließen sei, überzeugend.||
Das Frauenmuseum Wiesbaden zeigt immer wieder Arbeiten von international aufsehenerregenden Künstlerinnen, die es in Deutschland erst noch zu entdecken gilt. So präsentiert die ukrainische Künstlerin Dana Kavelina eine ihrer spektakulären Videoarbeiten, einen Animationsfilm: Es ist eine Filmerzählung, bei der es um Liebe, Blumen und die Kraft des Herzens geht. Mit alten Spitzendeckchen, Glasperlen, kleinen Spielzeugfiguren, Silberfolie und einem Füllfederhalter erzählt Dana Kavelina die große Tragik des Krieges wie in einem Märchen.
Fantastische Singschauspieler, ein introvertiert singender Lawrence Zazzo als Cäsar, eine mondäne Pretty Yende als Cleopatra: die Oper Frankfurt landet mit Nadja Loschkys Neuproduktion von Georg Friedrich Händels Oper "Giulio Cesare in Egitto" einen Coup, den man sich nicht entgehen lassen darf. Hochgespannte, wechselnde und intensive Stimmungen in einem 300 Jahre alten true-crime-Spektakel über vier Stunden: Unbedingt Hingehen!
Natascha Pflaumbaum hat neben den musikalischen Höchstleistungen in Frankfurt sehr viele Hinweise und Andeutungen entdeckt||
Ein Film mit Josef Hader und Birgit Minichmayr kann nicht langweilig sein - sollte man denken. Was aber, wenn Josef Hader, der in "Andrea lässt sich scheiden" auch Regisseur ist, es geradezu darauf anlegt, das Gefühl der Langeweile zu erzeugen? Langeweile ist schließlich die Grundstimmung in Niederösterreich, wo Polizistin Andrea (Birgit Minichmayr) ihren Dienst versieht. Dann aber überfährt sie aus Versehen ihren Mann, von dem sie sich eh scheiden lassen wollte. Kurz darauf überfährt auch der trockene Alkoholiker Franz (Josef Hader) die Leiche, hält sich für den Täter, und beginnt wieder zu trinken. Wie kann Andrea Franz davon überzeugen, dass er schuldlos war, ohne ihre eigene Beteiligung einzugestehen? In Österreich schrieben zahlreiche Kritiker, dies sei ein langweiliger Film, und das ist ausnahmsweise als Kompliment zu verstehen.
Ulrich Sonnenschein staunte, wie Josef Hader mit "Andrea lässt sich scheiden" einen langweiligen Film drehte, dem man gerne zuschaut. ||
Witzig, nachdenklich und unterhaltsam. Diese Inszenierung am Staatstheater Darmstadt lohnt sich. Zu den diversen Liebegeschichten im Urlaubsidyll am Wolfgangsee des Singspiels aus dem Jahr 1930 von Ralph Benatzkys gehören Hits wie "Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist?" oder "Es muss was wunderbares sein von Dir geliebt zu werden!" Dirigent Michael Nündel hat diesen Operrettenabend mit seinen Arrangement ordentlich entstaubt - und zeigt mit einemgroßartigen Ensemble wie das "Weisse Rössl" über einen Peter-Alexander-Schmäh hinaus auch heute noch begeistern kann.
Susanne Pütz erlebte einen rundum stimmigen Abend mit dem Klassiker am Staatstheater - im Stil eines Broadway-Musicals||
Der berühmte Satz - den Gorbatschow so nie gesagt hat -, passt auf Pjotr Tschaikowskis "Eugen Onegin". Die Oper bringt das Stadttheater Gießen mit großem Chor und großem Orchester an die Grenzen seiner Möglichkeiten - und endet in einem Triumph, der mit stehendem Applaus belohnt wird. Als Tatjana zum ersten Mal Eugen Onegin begegnet, verliebt sie sich sofort. Nur der kann mit ihrer Liebe nichts anfangen. Jahre später begegnen sie einander erneut, und diesmal verliebt sich Onegin in Tatjana. Nur die ist jetzt verheiratet und steht zu ihrer Ehe. Gesungen wird in russischer Sprache, und Tschaikowski liefert die überwältigende Musik für die ganz großen Gefühle.
Christiane Hillebrand findet, man solle die Oper "Eugen Onegin" in "Tatjana" umbenennen.||
"Kleine schmutzige Briefe" verspricht schon der Titel, den dieser Film voll einlöst. Die Möglichkeiten der englischen Gossensprache sind umfangreich; umso schockierender als diese Sprache in anonymen Briefen im englischen Littlehampton der 1920er Jahre auftaucht. Die Verdächtige steht schnell fest: Die Briefe können nur von Rose Gooding stammen, die trinkt, flucht und auch noch Irin ist! Nur eine Polizistin - was es in den 20er Jahren ebenfalls ziemlich unerhört ist - vermutet jemand anders hinter den Briefen. Ein Staraufgebot mit Olivia Colman, Jessie Buckley und Timothy Spall sorgt für beste Unterhaltung.
Ulrich Sonnenschein liebt britische Komödien und fühlt sich von "Kleine schmutzige Briefe" mal wieder bestätigt.||
Georg Büchners "Leonce und Lena" ist ein unverwüstlicher Klassiker. Regisseurin Charlotte Sprenger versetzt die beiden Königskinder am Staatstheater Kassel in die Welt der Superreichen. Langeweile und Dekadenz sind vom Text gedeckt und sogar der Schaum, mit dem die Bühne geflutet wird. Gelangweilter als Jonathan Stolze kann man den "Leonce" kaum geben, und Annett Kruschke ist eine großartige "Queen of Popo". Und doch bleibt eine gewisse Unzufriedenheit, weil allzu viele Anspielungen, die Büchners Text auch enthält, nicht eingelöst werden.
Andreas Wicke war in "Leonce und Lena" am Staatstheater Kassel hin- und hergerissen zwischen der großartigen Leistung der Schauspieler und der arg eindimensionalen Interpretation der Regisseurin||
Das Museum Giersch in Frankfurt würdigt die Malerin Louise Rösler mit einer Einzelausstellung. Rösler hatte es schwer - nicht etwa weil sie als Frau gemalt hätte, sondern weil der Zweite Weltkrieg dazwischen fuhr. Ihre Gemälde handeln von der Großstadt, sind bunt und kleinteilig. Sie war hervorragend ausgebildet, aber im Krieg wurde ihr Atelier ausgebombt. Nach Königstein evakuiert, saß sie in einem kleinen Zimmer und malte unverdrossen weiter, zum Beispiel auf die Rückwand einer Schranktür. Nach dem Krieg wurde ihre Malerei abstrakter und sie begann, Collagen anzufertigen, die durchaus als Kommentare auf die Zeit gelesen werden können, wenn sie etwa die Verpackung von gerade auf den Markt gekommenen Antibaby-Pillen verarbeitet. Röslers Werke wurden immer mal wieder ausgestellt, aber dank des Museums Giersch ist jetzt erstmals ein Überblick über ihr gesamtes Schaffen möglich.
Tanja Küchle war merklich von der Malerin Louise Rösler im Frankfurter Museum Giersch angetan.||
Die Oper "In seinem Garten liebt Don Perlimplín Belisa" am Bockenheimer Depot beginnt wie eine Komödie - ein verklemmter Bücherwurm wird gedrängt, eine sehr viel jüngere Frau zu heiraten - und schlägt um in eine Tragödie. Don Perlimplín kann die Bedürfnisse seiner Gattin Belisa in der Hochzeitsnacht nicht erfüllen und drängt sie, sich einen Liebhaber zu nehmen. Der stellt sich als Don Perlimplín höchst persönlich heraus, der Belisa tot in die Arme sinkt. Klingt abstrus, gewinnt aber vielleicht seinen Sinn, wenn man weiß, dass sowohl der Textdichter Federico García Lorca als auch der Komponist Wolfgang Fortner homosexuell waren. Belisa verlässt jedenfalls am Schluss laut mit der Tür schlagend die Bühne.
Meinolf Bunsmann gab der Text der Oper "In seinem Garten liebt Don Perlimplín Belisa" einige Rätsel auf, war jedoch von Wolfgang Fortners Musik begeistert.||
Wer das Museum Wiesbaden betrat, wurde schon seit langem von Rebecca Horns Kunstwerk "Jupiter im Oktogon" begrüßt. An der Decke der Eingangshalle hängt ein Spiegel, der sich in einem Bodenspiegel spiegelt. Das erzeugt eine derartige Tiefe, dass manchem Betrachter schwindelt. Nun feiert die international bekannte Künstlerin aus dem Odenwald 80. Geburtstag, und sie hat sich sozusagen selbst beschenkt, indem sie dem Museum Wiesbaden 60 Dauerleihgaben aus allen ihren Schaffensperioden überließ. Ihre zum Teil raumfüllenden Installationen sind so groß, dass sie nur nacheinander gezeigt werden können.
Stefanie Blumenbecker über ein großzügiges Geburtstagsgeschenk, das Rebecca Horn dem Museum Wiesbaden machte.||