Beim "Nussknacker" erwartet man zunächst ein Ballett mit der Musik von Tschaikowski, doch das Frankfurter Papageno Musiktheater greift bei seinem Gastspiel in der Alten Oper Frankfurt stark auf E. T. A. Hoffmanns Vorlage "Nussknacker und Mäusekönig" zurück. Dort ist es Weihnachtsabend bei Familie Stahlbaum: Die Geschwister Marie und Fritz tanzen um den Weihnachtsbaum und beschädigen dabei den Nussknacker. Marie kümmert sich um die Holzfigur, und ihr Patenonkel beginnt zu erzählen: Eine rachsüchtige Maus habe einen jungen Mann in den Nussknacker verwandelt. Um Mitternacht werden die Figuren in Maries Traum lebendig, und Maus und Nussknacker treten gegeneinander an. In der Version des Papageno Musiktheaters kommen die Tanzeinlagen erst in der zweiten Hälfte, die Musik wird teils live, teils vom Band gespielt. Beim jungen Publikum kam diese Version des "Nussknacker" gut an.
Meinolf Bunsmann fühlte sich im jungen Publikum des "Nussknacker" vom Papageno Musiktheater gut aufgehoben.||
Beinahe wäre die Aufführung von Donizettis "Der Liebestrank" am Staatstheater Darmstadt geplatzt, denn der Sänger des "Nemorino", der Tenor David Lee, war kurzfristig erkrankt. Für ihn sprang Matteo Roma ein, der sich in nur zwei Tagen in die Inszenierung einarbeitete. Von diesen Begleitumständen war bei der Premiere nichts mehr zu spüren. Regisseurin Geertje Boeden hatte auf der Bühne einen pastellfarbenen Traum bereitet. Zwei neue Rollen tauchen auf: Upupa und Colombina, zwei possierliche Vögel, die heftig miteinander turteln, und den Sängern gelegentlich die Show stehlen. Donizettis Musik ist abwechslungsreich, der Darmstädter Chor spielfreudig; Juliana Zara glänzt als "Adina". Für ihren Kraken-Rock mit Tentakeln gab es sogar einen Extra-Applaus. Eine Inszenierung für alle Liebhaber der leichten Oper und auch für Kinder ab zehn Jahren geeignet.
Meinolf Bunsmann ließ sich in Darmstadt vom Tschingderassa-Bumm in Donizettis "Liebestrank" mitreißen||
"Something rotten" am English Theatre Frankfurt spielt natürlich auf das Shakespeare-Zitat an, etwas sei faul im Staate Dänemark, und das ist genau das Problem, das die Brüder Nick und Nigel Bottom im England der Renaissance-Zeit haben: Wie hält man die eigene Theater-Truppe am Leben, wenn das Publikum nur noch die Stücke von diesem Shakespeare sehen will? Die Bottom-Brüder konsultieren ein Orakel, und das sagt ihnen voraus, dass im Theater der Zukunft geschauspielert, getanzt und gesungen werden wird und das alles gleichzeitig! Die beiden machen sich daran, das Musical zu erfinden. Das English Theatre bietet mit "Something rotten" eine hinreißende Show, die allerdings nur schätzen wird, wer über gediegene Englisch-Kenntnisse und einen soliden Bildungshintergrund zum Verständnis der Shakespeare-Anspielungen verfügt.
Ulrich Sonnenschein empfiehlt "Something rotten" am English Theatre Frankfurt für Englisch-Fort-Fort-Fortgeschrittene||
Das Städel Museum in Frankfurt würdigt bis 14. April 2024 Miron Schmückle mit "Flesh for Fantasy". Nicht bei den Alten Meistern, nicht bei den Modernen in den unteren Gartenhallen, sondern genau dazwischen: dort, wo man normalweise nur durchläuft. Das ist neu - und der kuratierende Direktor Philipp Demandt beweist ein sehr gutes Händchen damit. Denn die zum Teil riesigen Werke des gebürtigen Rumänen zeigen nichts als Blumen, Phantasiegebilde in Aquarell. Hier kommen sie zur Geltung - nahezu hyperrealistisch echt in der Darstellung von Blüten und Knospen, bis hin zu kleinen Details in Staubgefäßen, Samenständen oder Luftwurzeln. Dabei strahlen diese Organismen in rot, blau, purpur, orange oder gelb. Auch in großem Format, das keck von der Decke hängt. Es gibt deutliche Anlehnungen an die Tradition der Blumenmalerei wie man sie bei den Miniaturen von Georg Hoefnagel im 16. Jahrhundert findet, über den Schmückle promoviert hat. Aber natürlich grüßt auch Maria Sybilla Merian von Ferne. Wir sehen kostbare Schmuckstücke, die sehr gut zum Städel passen.
Stefanie Blumenbecker lobt das Städel für den Mut, in diesem Transit-Raum derart hochwertige Kunst zu zeigen||
Es hat 42 Jahre gedauert, bis die Oper Frankfurt nach der Skandal-Inszenierung von Hans Neuenfels "Aida" wieder auf den Spielplan gesetzt hat. Vor allem, dass Neuenfels Aida als Putzfrau zeigte, stieß damals übel auf. In der Neu-Inszenierung von Lydia Steier ist Aida wieder eine Putzfrau - vielleicht eine Reverenz an Neuenfels -, aber heutzutage ist das Publikum Schlimmeres gewohnt. Immerhin ist Aida eine äthiopische Geisel am ägyptischen Hof, und die werden mit niederen Arbeiten beschäftigt. Doch insgesamt überzeugte die Neu-Inszenierung vor allem in der zweiten Hälfte nicht, sodass es zum Schluss nicht nur Bravo-, sondern auch Buhrufe für das Regie-Team gab. Musikalisch war "Aida" jedoch über allen Zweifel erhaben. Und besonderes Lob verdient Aida-Sängerin Guanqun Yu, die trotz einer Verletzung sich nichts anmerken ließ und bis zum Schluss durchhielt.
Meinolf Bunsmann genoss die Musik in der Neu-Inszenierung von "Aida" an der Oper Frankfurt, die Regie dagegen weniger.||
Wutbürger sind ein vieldiskutiertes Phänomen unserer Zeit; die beiden flämischen Autoren Jan Sobrie und Raven Ruëll sind der Meinung, dass es auch das Gegenteil davon gebe: "Wutschweiger". Das Staatstheater Darmstadt hat ihr "Klassenzimmerstück" aufgeführt, das tatsächlich nur knapp eine Schulstunde dauert. Ebeneser ist mit seinen Eltern in einen Wohnblock umgezogen, weil sie sich ihr Häuschen nicht mehr leisten können. Mit seiner Freundin Sammy freut er sich auf den Höhepunkt des Jahres: Skiferien mit der ganzen Klasse. Doch dann können weder er, noch Sammy mitfahren, weil ihre Eltern das Geld nicht haben. Ebeneser und Sammy beschließen, fortan aus Wut zu schweigen, und wie sich herausstellt, ist das eine ganz schön laute Botschaft. Das Staatstheater Darmstadt bietet Schulen an, mit diesem "Klassenzimmerstück" in die Schulen zu kommen.
Ursula May findet "Wutschweiger" gut, gerade weil es auf den pädagogischen Zeigefinger verzichtet.||
Eigentlich wollte die Oper Frankfurt György Ligetis "Le grand macabre" 2020 aufführen, aber da machte die Corona-Pandemie einen Strich durch die Rechnung. Das Warten hat sich gelohnt. Schon das üppige Bühnenbild bekam einen Sonderapplaus vom Publikum. Inhaltlich geht es um nichts weniger als den Weltuntergang, den der Prophet Nekrotzar verkündet: Ein Komet wird auf der Erde einschlagen und die Menschheit auslöschen. Die lässt daraufhin noch einmal die Sau raus. György Ligeti verlangt den Sängern und dem Orchester fast schon Unmögliches ab, doch sie meistern die Herausforderung. Am Ende fliegt der Komet an der Erde vorbei. "Die Moral von der Geschicht': Fürchtet den Tod nicht, gute Leut' / Irgendwann kommt er, doch nicht heut' / Und wenn er kommt, dann ist's soweit, / Lebt wohl so lang in Heiterkeit."
Meinolf Bunsmann war so begeistert, dass er sich "Le grand macabre" ein zweites Mal anschauen wird.||
Die Neue Galerie in Kassel zeigt die Sonderausstellung "Fritz Winter - documenta-Künstler der ersten Stunde". Wegen seiner Bildsprache zu Beginn der 50er Jahre gilt er als einer der bedeutendsten Vertreter der deutschen Nachkriegsmalerei, war superprominent auf der ersten documenta ausgestellt und hat quasi im Alleingang dort demonstriert, dass Kunst in Deutschland wieder international auf der Höhe der Zeit ist: Schwarze Balken-Formen schweben vor gelb, grau und blau. Die Bilder sind farbstark, spielerisch, lyrisch. Sie leben von Rhythmus, Tonalität und Klang - ein bisschen wie farbgewordener Jazz. Man sieht immer wieder schwarze dünne Linien und kräftige Formen, die mit farbigen Flächen und Formen ein lebendiges Gleichgewicht finden. Auch wenn diese Malerei nichts konkret Politisches thematisiert, so erscheinen sie doch als intuitive Bildwerdung auf Bedrohung, eine sich schließende Gesellschaft und mächtige dunkle Kräfte. Unglaublich gute Malerei!
Stefanie Blumenbecker empfiehlt das Werk eines Künstlers, der Maßstäbe wie Picasso gesetzt hat||
Eine Premiere verschieben, das macht man nicht ohne weiteres, aber das Warten auf den Bariton Grga Peros hat sich gelohnt: Dieser Rigoletto an der Seite des warm timbrierten Michael Ha (Herzog von Mantua) und der klaren, zerbrechlichen "Gilda" Annika Gerhards ist großartig, kraftvoll, differenziert, ja: ergreifend gesungen! Die Erfolgsoper von Giuseppe Verdi über Moral, Liebe und eine Drei-Klassen-Gesellschaft kommt am Stadttheater Gießen im schlichten Bühnenbild daher, das Philharmonische Orchester unter Andreas Schüller kostet die kammermusikalischen Momente aus, ergänzt manch Düsternis auf der Bühne bis zur Gänsehaut. Die berühmte Arie "Donna e mobile", die am Ende aus dem Off ertönt und schaurige Gewissheit bringt, beendet eine sehenswerte Inszenierung und diesen hörenswerten Abend. Bravi!
Christiane Hillebrandt bewunderte am Stadttheater auch den herrlichen und gut mitspielenden Männerchor ||
Ihr Sohn hat einen Mord begangen - soviel ist unstrittig in "Die Masken des Teufels" von David Mamet am Staatstheater Wiesbaden. Eine Mutter würde trotzdem alles tun, um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren. Darf sie wirklich alles, fragt David Mamet, denn die Mutter - wohlhabend und gut vernetzt - scheut vor keinem Mittel zurück. Zwei Polizisten, die schon längst den Glauben an den Rechtsstaat verloren haben, flüchten sich in ein zynisches Lob des Schlagstocks. Und die Mutter fragt sich: Könnte man nicht die Geschworenen bestechen? Und was ist mit dem Opfer? Hat sie nicht den Sohn verführt? Und dann ist die auch noch eine Jüdin. Je länger "Die Masken des Teufels" währt, desto monströser werden die Rettungsversuche, die sich die Mutter ausdenkt. David Mamet fragt in seiner Versuchsanordnung, was ein liberales Rechtssystem an Angriffen von prinzipienlosen Menschen aushält.
Mario Scalla bescheinigt dem Text von "Die Masken des Teufels" einige Schwächen, die aber geschickt von der Regie aufgefangen werden.||
Wer hat sich nicht schon gewünscht, bei einem Film die Regie zu übernehmen? Sei vorsichtig, was du dir wünschst, würde man in England dazu sagen, es könnte wahr werden. Bei der Video-Oper "Kairosis", die im Frankfurter Netzwerk Seilerei gezeigt wurde, durfte das Publikum immer wieder selbst entscheiden, wie es weitergehen sollte. Nur entschied das Publikum schlecht, wie der Schöpfer der Video-Oper Moritz Eggert es wiederholt wissen ließ. So starb die Protagonistin zweimal innerhalb von kurzer Zeit, sodass Eggert mit dem Film von vorne anfing. Gesungen wurde nicht, sodass die Erwartung auf eine Oper enttäuscht wurde. Die besten Musikstücke steckten in Handlungssträngen, gegen die sich das Publikum entschieden hatte, ließ der Komponist das Publikum wissen. Zum Schluss fragte sich nicht nur unser Kritiker, was das Ganze soll.
Bastian Korff liebt Oper, und er liebt Video-Spiele. Beides bekam er nicht.||
"Ich möchte Vergebung, gebt Ihr mir Nachsicht!" Uwe Eric Laufenberg verabschiedet sich in seiner letzten Spielzeit am Staatstheater Wiesbaden mit Shakespeares "Sturm". Der Intendant hatte die Inszenierung sowie die Hauptrolle des Prospero selbst übernommen. In Shakespeares letztem Stück geht es um Macht, um die Verantwortung im Umgang damit sowie ums Abschied-Nehmen. Eine passende Wahl zum Ende eines nicht immer ganz unumstrittenen Intendanten. Das Wiesbadener Publikum dankte es ihm mit Applaus.
Mario Scalla fand die Inszenierung bildgewaltig, hätte sich aber eine Inszenierung mit aktuellen Bezügen gewünscht.||
Ein Klassiker der Opernbühne und zugleich der Auftakt einer neuen Ära in Frankfurt: Generalmusikdirektor Thomas Guggeis zum ersten Mal in dieser Funktion, motiviert und kreativ, wie man den 30-Jährigen kennt und jetzt schon liebt. Das Bühnenbild spärlich, die Kostüme knallbunt, die Stimmen umwerfend: Frankfurt ist nicht umsonst Opernhaus des Jahres, das Quartett Elena Villalón (Susanna), Adriana González (Gräfin), Danylo Matviienko (ein Graf Almaviva mit viel Witz und großem Männlichkeitsego) und der Bassbariton Kihwan Sim als Figaro bereiteten sängerisch einen großen Abend! Guggeis leitet diese Inszenierung nicht nur vom Pult, sondern auch vom Hammerflügel aus, bindet die Rezitative bruchlos ein, alles mit viel Humor und sehr versiert. Freuen wir uns auf all das, was in dieser Spielzeit noch kommen wird!
Susanne Pütz wurde in der Oper Frankfurt von vielem sehr positiv überrascht||
Molière hat die Hauptfigur in "Der Geizige" eigentlich als Ekelpaket angelegt; er quält Diener und Kinder, versucht seinem Sohn die Frau auszuspannen. Nur zum Geld unterhält er ein erotisches Verhältnis. Peter Schröder gelingt am Schauspiel Frankfurt das Kunststück, diese Figur sogar charmant wirken zu lassen. Dazu kommen ein überzeugendes Bühnenbild und Kostüme voller Überraschungen, denn unter den schwarzen Talaren verstecken sich die buntesten Verkleidungen. Und das märchenhafte Ende, in dem es Goldlametta regnet, versöhnt dann endgültig mit dem Geizhals. Eine vollauf gelungene Inszenierung, die Mateja Koležnik zu verantworten hat.
Ursula May war von der Aufführung von Molières "Der Geizige" am Schauspiel Frankfurt verzaubert.||
Vor dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt steht Vera Röhms mächtige "Licht-Strahl-Eiche", in der Acrylglas einen Durchblick auf die Holzstruktur erlaubt. Die Bildhauerin hat Acrylglas als Material für die Bildhauerei entdeckt. In einem Gespräch im Hessischen Landesmuseum erzählte sie, wie sie auf die Idee kam, Acrylglas mit geborstenem Holz zu kombinieren. Nach einem Sturm war sie von den ungeknickten Bäumen fasziniert; aber es dauerte Jahre, bis sie heraushatte, wie sich Acrylglas, Holz und Stahl dauerhaft kombinieren lassen. Und Röhm erzählte, wie bei ihr der künstlerische Prozess von der Zeichnung bis zur fertigen Skulptur verläuft.
Stefanie Blumenbecker schätzt Vera Röhm als eine der großen Bildhauerinnen unserer Zeit.||
Das Klingspor-Museum in Offenbach widmet sich der Buch- und Schriftkunst. In seiner Ausstellung "Achtung: enthält Leben" zeigt es Tagebücher von Künstlern sowie von Menschen, die ihre Tagebücher nach einem Aufruf eingereicht hatten. Tagebuch-Schreiben als Mittel der Reflektion sei wieder modern, heißt es. Von "Tagebuch schreiben" kann allerdings häufig kaum mehr die Rede sein, wenn man die kleinen Kunstwerke mit Zeichnungen, Fotos und Ausschmückungen sieht. Andere haben den nüchternen Charakter von Notizbüchern. Und dann gibt es da noch die "Bullet Journals" in denen Menschen stichwortartig zum Beispiel ihr tägliches Körpergewicht, die gelaufene Schrittzahl oder die Haushaltsausgaben eintragen. Selbst hier gibt es Einiges zu entdecken, wie den Eintrag "verkatert, obwohl sehr viel Wasser getrunken".
Stefanie Blumenbecker betrachtet Tagebücher als Weg in die künstlerische Betätigung.||
Ob Sie mit ihr gespielt haben oder nicht, man kann ihr derzeit nicht entgehen: Ob im Kino oder in anderen Medien – Barbie ist allgegenwärtig. Auch in der Austellung, die jetzt an historischem Ort zu sehen ist. Wohltuend zurückhaltend präsentiert man die Geschichte der Kunststoffschönheiten, es schreien einen keinen grellen Farben an: Original-Puppen, die mitunter über 60 Jahre auf dem hübschen Buckel haben und mit denen auch gespielt wurde. Sogar die "Bild-Lilli" ist da, die als Comic erfunden wurde und als Ursprungs-Idee für Barbie gilt. Aus Deutschland kommt also der Hype um die ultraschlanke Blonde. Sie zog um die Welt und war auch züchtig gekleidet oder mit Hüftpolstern zu haben. Eine Zeitreise durch die Modepuppen-Geschichte, nicht nur für 6-Jährige.
Bastian Korff wollte im Brüder-Grimm-Haus in Steinau die Puppen gerne anfassen, durfte aber nicht||
Das Deutsche Romantik-Museum in Frankfurt stellt vor allem Handschriften aus. Da liegt es nahe, einmal die Schrift selbst zum Thema einer kleinen Ausstellung zu machen: "Schreiben mit der Hand in der Zeit der Romantik". Vom 17. Jahrhundert bis zum "Dritten Reich" schrieben die Deutschen vor allem in Kurrentschrift, die heute kaum noch jemand lesen kann. Fremdwörter wurden in der uns geläufigen lateinischen Schrift geschrieben. Das ging soweit, dass Goethe seinen "West-Östlichen Divan" in lateinischer Schrift verfasste, da es ja um ein ausländisches Thema ging, den "Faust" aber in Kurrentschrift.
Rosemarie Tuchelt war von der Vielzahl der Handschriften-Typen in der deutschen Geschichte fasziniert.||
Die Ausstellung "Wer war Fritz Kittel?" im Frankfurter Museum Judengasse erinnert an einen mutigen Menschen. Während des "Dritten Reichs" transportierte die Reichsbahn zu Millionen Juden in die Vernichtungslager und an die Erschießungsorte in Osteuropa. Die Züge wurden von Reichsbahnarbeitern wie Fritz Kittel abgefertigt, der sich jedoch inmitten der Diktatur seine Menschlichkeit bewahrte. Er versteckte die beiden Jüdinnen Hella und Hannelore Zacharias.
Mario Scalla erzählt von der Ausstellung "Wer war Fritz Kittel?" im Frankfurter Museum Judengasse||
Frankfurt und Offenbach im Zeichen des internationalen Theaters: Mehr als 300 Künstlerinnen und Künstler bei 286 Veranstaltungen prägten das Festival, das die Japanerin Chaiki Soma künstlerisch leitete und mit vielen japanischen Produktionen bereicherte. Bei der Frage, "Was ist Theater heute?" sollte das Publikum oft handeln, die Geschichte mitbestimmen - es gab in den Performances nicht immer Schauspieler, es gab Stücke, die auf sehr eigene Art mit Video und Animation umgingen, auch mit der Darstellung des Unerträglichen. Beispiel: Der Mord an drei Frauen in Brasilien: Grenzüberschreitungen von Performerin Carolina Blanchi, die kaum auszuhalten waren, die man nicht so einfach wegstecken kann - und die die Frage übriglassen, ob Theater wirklich so wirklich sein muss.
Ursula May hat sich viele Stücke bis zum Ende angesehen, auch wenn es oft schwerfiel||
Le Vin Herbé, der Zaubertrank, des Schweizers Frank Martin von 1942 erntet in Frankfurt viel Applaus. Die tragische Handlung gleicht Wagners "Tristan und Isolde" - ist musikalisch aber Gegenprogramm: Nicht vier Stunden, sondern knapp zwei, kein Riesenorchester, sondern sieben Streicher plus Klavier. Die Musik teils sehr archaisch, teils sehr modern, auch 12-Ton-Reihen, dann immer wieder tonale Klänge. Die passend sparsame Inszenierung von Tilmann Köhler, das geometrische, beeindruckende Bühnenbild von Karoly Risz und ein Chor, der vereinzelt aus 32 Logen singt, Chapeau!, ergeben ein Stück, das sich kennenzulernen lohnt. Bei den Solisten und Solistinnen überzeugen die lyrischeren Stimmen mehr, bei Tristan und Iseut bleiben Wünsche offen, zu viel Vibrato im Sopran, zu kraftvoll der Tenor. Dennoch: Diese Rarität sollte man sich nicht entgehen lassen!
Viel Lob und etwas Tadel unseres Kritikers Meinolf Bunsmann||
Daniel Hope ist ein begnadeter Conférencier, und als Ire ist ihm die deutsche Unterscheidung zwischen Unterhaltungs- und ernster Musik sowieso fremd. Und so reißt er als Fokus-Künstler bei einem Konzert des Rheingau-Musik-Festivals im Kurhaus Wiesbaden gnadenlos die vierte Wand nieder, die im deutschen Klassik-Betrieb normalerweise das Publikum vom Orchester trennt. Zu hören gab es unter anderem Filmmusik mit großem Orchester. Das Publikum dankte Hope mit lang anhaltendem Applaus.
Natascha Pflaumbaum sieht in Daniel Hope die Zukunft der Klassikmusik verkörpert.||
Der Portikus ist Frankfurts ungewöhnlichste Ausstellungshalle und in seiner himmelstrebenden Form nicht leicht zu bespielen. Simone Fattal ist zwar in der internationalen Kunstszene bekannt, aber in Deutschland bisher kaum aufgetreten. In der Installation "The Manifestations of the Voyage" greift sie zurück auf das Gilgamesch-Epos. Gleich zu Beginn besiegt hier Gilgamesch Humbaba, den Wächter des Waldes; in den Augen von Simone Fattal ein Gleichnis für die Naturzerstörung. Ihm stellt sie den "Young Man" gegenüber als Stellvertreter für kommende Generationen.
Stefanie Blumenbecker empfiehlt einen Besuch von "The Manifestations of the Voyage" von Simone Fattal im Portikus Frankfurt||
Der neue Film von Christoph Hochhäusler war einer der deutschen Beiträge im internationalen Wettbewerb der Berlinale, den Silbernen Bären gab es für Thea Ehre als beste Nebendarstellerin. Eine Kriminalgeschichte, verdeckte Ermittler sind auf der Spur eines Online-Drogenhändlers - und eine äußerst komplexe Liebesgeschichte: Was ist Wahrheit, was Lüge, was Täuschung, was ist inszeniert, wann sind Gefühle gespielt, wann sind sie echt? Und wer überhaupt sind die Guten, die Bösen - oder sind alle gut oder alle böse? Es gibt viele Anspielungen auf das Genre des Thrillers, den Film Noir - also unbedingt auf der großen Leinwand schauen! Und wer sich in Frankfurt auskennt, wird einige Schauplätze wieder erkennen oder mit ganz neuen Augen sehen.
Hadwiga Fertsch-Röver bewundert Thea Ehre, die den Film trägt||
In "Jugend ohne Chor" von Anne Lepper am Staatstheater Darmstadt muss Dirk hinaus in die große weite Welt. Damit er nicht verloren geht, gibt ihm seine Mutter einen Chor mit, der ihm den Weg weisen soll. Die große weite Welt nimmt die Gestalt einer Backstube an. Bühnenbildnerin Carolin Mittler hat sichtlich viel Spaß dabei gehabt, das Staatstheater dafür in Mehlstaub zu tauchen. Ob nun aber eine Backstube die geeignete Metapher für die kapitalistische Verwertungslogik ist, daran hatte unsere Theaterkritikerin Ursula May dann doch ihre Zweifel.
Ursula May ließ die Uraufführung von "Jugend ohne Chor" am Staatstheater Darmstadt etwas ratlos zurück.||
Kann die letzte Runde in einer Bar ein Leben nachhaltig verändern? Jamie ist gerade dabei zu schließen, als ein älterer Herr hineinstürmt. Er bietet ihm und seiner Freundin Abby viel Geld, wenn sie noch einen letzten Drink mit ihm nähmen. Während die drei sich also unterhalten, fängt Jamie an, seine Ambitionen als Musiker und seine Pläne mit Abby zu hinterfragen. Langsam realisiert das junge Paar, dass der mysteriöse Unbekannte ungewöhnlich intensiv interessiert ist. Ist der Grund, den er vorgibt, glaubwürdig? Als eine weitere, ungehaltene Person auftaucht, scheint seine zuvor noch als unrealistisch abgetane Geschichte plötzlich gar nicht mehr so abwegig. - "Now and Then", eine berührende romantische Komödie über die Konsequenzen unserer Entscheidungen, und die Menschen, die sie mit uns tragen.
Ulrich Sonnenschein genoss den Abend im English Theatre Frankfurt||
Richard Wagners "Ring des Nibelungen" - ein spektakuläres Musiktheater-Großereignis, das gerade in Kassel über die Bühne des am Staatstheaters geht. Coronabedingt musste man dort ziemlich lange warten, bis es als Zyklus mit allen vier Teilen zu sehen war: Das Rheingold – Die Walküre – Siegfried – Die Götterdämmerung. Inszeniert hat die vier Abende der ehemalige Schauspieldirektor Markus Dietz. Astrid Gubin hat den kompletten Zyklus in Kassel gesehen und zieht Bilanz.
Astrid Gubin hat Wagners "Ring" mehrfach gesehen und ist begeistert||
In "Embodying Bodies" zeigt Choreograf Fabrice Mazliah am Künstlerhaus Mousonturm getanzte Theorien der Biologin Lynn Margulis: Der menschliche Körper sei keine abgeschlossene Einheit, sondern ein ganzes Ökosystem. Da werden Steine in Kniekehlen geklemmt und über Bauchnabel gerollt, Arme in Wasser geplatscht und Beine mit anderen Beinen verschränkt. Der Abend ist sehr detailgenau gearbeitet, wie das bei Mazliah meist der Fall ist - die Choreografie wirkt oft wie eine bewegte Installation, die das Empathievermögen anspricht und wortwörtlich "berührt". Wie das funktioniert, ist sehr faszinierend - wer sich darauf einlässt, fühlt mit!
Esther Boldt hat auch körperlich eine symbiotische Beziehung zu den Tanzenden aufgebaut||
Dumm gelaufen: Stimmung und Hemd vergiftet, die Frau neurotisch und böse - am Ende stirbt Hercules, obwohl er doch der Gute ist! Diese Barockoper bietet in Frankfurt Dank des Ensembles, Laurence Cummings' Dirigat und der Inszenierung von Barrie Kosky alles, was das Genre ausmacht: Chaos, Liebe, Charaktere. Perfekt gesungen (Chor!), lustvoll und herrlich gespielt, auch im Graben auf historischen Instrumenten: Tempo und Gefühl - ganz große Klasse! Auch für Familien geeignet ;-)
Astrid Gubin möchte unbedingt noch einmal in die Oper Frankfurt||
2015 setzt Lars Kraume dem Generalstaatsanwalt mit "Der Staat gegen Fritz Bauer" ein Denkmal. Das Politdrama zeigt Bauers akribische Suche nach Adolf Eichmann, dem meistgesuchten Nazi-Verbrecher, der hier vor Gericht gebracht werden soll. Im Deutschland der 50er Jahre fehlt es aber an Unterstützung zur Aufklärung der Nazi-Verbrechen, Verdrängung und Denunzierung herrschen vor. Nun ist der Stoff als Theateradaption in Gießen zu sehen - und gleitet in eine Art Jan-Böhmermann-Humor ab. Sehr schade, findet unsere Kritikerin - und schlägt vor, dass die beiden Schauspieler, die Fritz Bauer und Karl Angermann darstellen, die Inszenierung von Jenke Nordalm crashen sollten!
Natascha Pflaumbaum konnte sich der Begeisterung des Gießener Publikums nicht anschließen||
Am Hessischen Landestheater Marburg inszeniert Nino Haratischwili den Roman von Aglaja Veteranyi "Warum das Kind in der Polenta kocht" als Theaterstück. Es geht um eine rumänische Künstlerfamilie, die sich ein besseres Leben in der Schweiz erhofft. Erzählt ist das Stück aus der Perspektive eines Kindes, das, um die schreckliche Wirklichkeit zu bewältigen, sich noch schrecklichere Geschichten ausdenkt. Der gelungene Kunstgriff von Haratischwili besteht darin, zwischen den Sprachen Deutsch und Georgisch hin- und herzuwechseln, sodass auch die deutschen Zuschauer ein Gefühl von Fremdheit überwältigt.
Natascha Pflaumbaum erlebte mit "Warum das Kind in der Polenta kocht" einen denkwürdigen Theaterabend in Marburg.||
Nur für zwei Wochen (bis 7. Mai) zeigt das Fotografie Forum Frankfurt (FFF) künstlerischen Positionen, die für die Shortlist des Prix Pictet ausgewählt wurden. 13 Serien zeigen Feuer als Zerstörer, Hoffnung und Licht, auch als Neuanfang. Und als Faszinosum, das eine Art "Tor zur Ewigkeit" darstellt. Besonders beeindruckt die Vielfalt der Themen und Techniken, von greller Farbcollage bis zu Scherenschnitten und uralten Fotografie-Techniken. Künstler aus unterschiedlichsten Kulturen und Ländern kommen zusammen - mit Bildern, die im Gedächtnis bleiben. Unbedingt ansehen, Eintritt ist frei!
Stefanie Blumenbecker ist vom Formenreichtum im Fotografie Forum Frankfurt begeistert||
Kurz vor seinem 80. Geburtstag führte Sir John Eliot Gardiner Bachs h-Moll-Messe in der Alten Oper auf. Von Routine ist dabei keine Spur zu hören. Gardiner beschäftigt sich ständig mit den historischen Quellen, versucht neue Zugänge zu finden. Dafür hat er sich zwei einzigartige Instrumente geschaffen: die "English Baroque Soloists" sowie den "Monteverdi Choir". Mit ihnen kann er seine musikalischen Gedanken perfekt umsetzen. Und auch wenn Bachs Messe von Glaubenszweifeln und Glaubensgewissheit handelt, Gardiners Glaube an Bach ist unerschütterlich.
Natascha Pflaumbaum begeistert sich für Sir Gardiners Interpretation der h-Moll-Messe von Bach||
Wer eignet sich besser, um Macht, Machtmissbrauch und Gewalt zu analysieren, als der gute, alte Shakespeare? Da liegt es nahe, "Macbeth" auf die heutigen russischen Verhältnisse zu projizieren. Am Schauspiel Frankfurt streicht Regisseur Timofej Kuljabin einige vertraute Stellen, fügt anderswo neue hinzu. Insgesamt aber gelingt es ihm, einen Mann zu zeigen, der durch sein unstillbares Verlangen nach Macht zum Tyrannen und Mörder wird. Dieser Macbeth regiert wie Putin von einem langen Tisch aus. Aber auch er hinterlässt eine Blutspur, und es bleibt offen, was danach noch kommen kann.
Ursula May lobt die Inszenierung von "Macbeth" durch den Russen Timofej Kuljabin am Schauspiel Frankfurt||
Die fünf Phasen der Trauer sind für eine Tanz- oder Physical-Theatre-Produktion geradezu perfekt, weil wir es hier mit emotionaler und körperlicher Bewegung zu tun haben. Das Stadtthetaer Gießen zeigt - wie so oft - ein spartenübergreifendes Projekt, mit Tanzensemble, Opernchor, Orchester, zeitgenössischer Livemusik, Schauspiel, Filmzuspielungen: Man bricht die klassische, frontale Theatersituation auf, die Bühne wird zum Zuschauerraum. Eine fulminante Ensembleleistung, Körperbeherrschung vom Feinsten und ergreifend umgesetzte Emotionen. Die verzerrten Körper und Gesichter geben viel mit auf den Heimweg, vor allem eins: Hoffnung.
Christiane Hillebrandt ließ sich am Stadttheater Gießen fesseln||
Die Idee der Oper Frankfurt erscheint zunächst absurd, zwei deutsche Opern zusammenzubinden, die eine 1928 uraufgeführt, die andere 1943. In "Der Zar lässt sich fotografieren" von Kurt Weill geht es um einen Attentatsversuch auf den Zaren in einem Foto-Atelier - übrigens eine komische Oper. Carl Orff schrieb "Die Kluge" im Auftrag der Oper Frankfurt während der schlimmsten Phase des "Dritten Reichs". Umso erstaunlicher, dass so ein Satz damals die Zensur passieren konnte: "Wer die Macht hat, hat das Recht; und wer das Recht hat, beugt es auch".
Imke Turner überzeugte die Idee, Opern von Kurt Weill und Carl Orff gemeinsam an einem Abend aufzuführen.||
Das Museum der Goethe-Universität in Frankfurt zeigt Künstler, die aus der Region stammen oder hier verwurzelt sind, aber weitgehend unbekannt blieben. Jetzt Ernst Weil, einen typischen Nachkriegskünstler: Seine Werke sind nicht vollkommen abstrakt, weil - so Weil - "eine rein gegenstandslose Kunst nicht möglich" sei. Man merkt, dass er viele Aufträge im Bereich angewandte Kunst angenommen hat, er illustrierte Kurzgeschichten, Zeitungen und Bücher, machte Werbegrafik und Wanddekorationen. Dabei kreist er um sich selbst, unserer Kritikerin ist alles zu ordentlich, am Ende zu konservativ, zu brav. Angelehnt an die Strömungen der Moderne, aber dann doch provinziell.
Stefanie Blumenbecker fand die Bilder dekorativ, aber zu unpolitisch||
Wenn das Bockenheimer Depot - ein ehemaliges Straßenbahndepot - ganz leergeräumt wird, bekommt es die Anmutung einer dreischiffigen Kirche. Das passt zu den beiden Einaktern, die Benjamin Britten nach biblischen Gleichnissen komponiert hat. Wer angesichts des Namens nun große Oper erwartet, wird enttäuscht sein. Hier gibt es keine Dramatik, weibliche Stimmen fehlen. Dafür gibt es aber Musik, die der Geschichte vom verlorenen Sohn aus dem Lukas-Evangelium und der Episode von den Jünglingen im Feuerofen aus dem Buch Daniel angemessen ist.
Imke Turner meint, wer sich auf Brittens Musik einlässt, wird durch ein reiches Erlebnis belohnt werden. ||
Verdi hat in diese Oper alles hineingepackt, was an Dramatik möglich ist: In "La forza del destino" verflucht der Vater den Liebhaber der Tochter Leonora. Der erschießt versehentlich den Vater. Daraufhin will Leonoras Bruder den Vater rächen und jagt den Liebhaber durch mehrere Länder. Am Staatstheater Kassel inszenierte Valentin Schwarz diesen Opernthriller so überzeugend, dass das Publikum mehrfach zu Szenenapplaus hingerissen wurde, woran die hervorragenden Sänger nicht den geringsten Anteil hatten.
Robert Kleist schwelgte mit dem Kasseler Publikum in Verdis "La forza del destino" am Staatstheater||
Das Frankfurter Naturmuseum Senckenberg hat nie vor dem Kontakt mit der Kunst zurückgeschreckt. Aktuell zeigt es die Ausstellung "The Machine" von Maria Loboda, die hauptsächlich aus einem viertelstündigen Film besteht. Der Film setzt vor 49 Millionen Jahren in der Grube Messel ein, die einmal eine Müllgrube werden sollte, fragt dann aber hauptsächlich, was für Fossilien unser Zeitalter produzieren wird. Die ästhetischen Kriterien künftiger Generationen sind uns natürlich noch unbekannt, aber Maria Loboda hat da einige hübsche Ideen für Fossilien aus menschlichem Müll. Die Kunstreihe wird fortgesetzt.
Mario Scalla fand Maria Lobodas "The Machine" am Frankfurter Senckenberg-Museum anregend.||